Der
Deutschleistungskurs der 12. Stufe eines Rheinland-Pfälzer Gymnasiums
schreibt gerade seine erste Leistungskursarbeit über Rilkes Gedicht Sonette
an Orpheus. Im Klassenzimmer kehrt einfach keine Ruhe ein.
Alle Schüler werden von derselben Frage geplagt. Endlich traut
sich einer, die Frage zu stellen: „Entschuldigen Sie bitte,
Frau X, aber wer war noch mal der Orpheus?"
Deutschlehrerin
(Frau X): „Ooch, irgend so ein griechischer Gott. Das wissen
sicher die Lateiner." (Erwartungsvoll schaut sie in die Runde,
in der Hoffnung, einen Lateiner zu entdecken. Nicht zum ersten
Mal müssen die Schüler sie aufklären, daß sie ein Französischkurs
sind.) Unsicher fährt sie fort: „Ist das nicht der Weingott
oder so?" Ein Winzersohn entgegnet verärgert: „Ach was, der
heißt immer noch " Bacchus oder Dionysos, aber bestimmt nicht Orpheus!" Darauf
erklärt Frau X gereizt: „Es ist doch gleichgültig! Der Name
wird ja nur in der Überschrift erwähnt. Los fangt endlich an, Ihr
verliert nur Zeit!" Empört sehen sich die Schüler an: Seit wann
ist die Überschrift eines expressionistischen Gedichts gleichgültig!?
Verärgert und verwirrt beginnen sie mit ihrer Arbeit. — Es
gilt zu „punkten", schließlich geht es um das Abitur.
Derselbe
Kurs ein Jahr später, kurz vordem Abitur. Nach drei Monaten Woyzeck wird
vier Wochen vor Unterrichtsende mit der Klassik sowie der Lektüre Faust
I begonnen. Die Bedeutungen der ab und zu vorkommenden griechischen
Götter oder Sagengestalten bleiben den Schülern vorenthalten. Die
Lehrerin weiß es nicht, sie macht sich auch nicht die Mühe, ein
Nachschlagewerk in den Unterricht mitzubringen, geschweige denn
eine aufklärende Liste anzufertigen.
Schüler,
deren Motivation der frustrierenden Lehrkraft und dem dies duldenden
Schulsystem standhalten konnte und die außerdem kurz vor dem Abitur
noch Geduld und Zeit aufbringen können, schlagen in Lexika nach.
Schließlich wird ein Lernblatt mit den graphisch dargestellten
Epochenmerkmalen der Deutschen Klassik ausgeteilt. Im-Zentrum der
Darstellung steht als Unterschrift eines Kästchens mit der Inschrift
Harmonie aller Kräfte „Ideal: griechische Antike". Bei einigen
Schülern geht mittlerweile schon bei „G" wie „griechisch" eine
Gehirnklappe zu. Die noch Motivierten stellen Fragen nach dem Ideal,
der Harmonie aller Kräfte und allgemein über die griechische Antike.
Bald schon bereuen sie ihr Interesse, denn die Antwort der Lehrkraft
lautet: „Ihr glaubt doch nicht im Ernst/daß ich Euch jetzt
kurz vor dem Abitur die griechische Antike erkläre. Also bitte,
als Abiturient sollte man wissen, was mit den Begriffen gemeint
ist. Dafür ist jetzt keine Zeit mehr. Außerdem reicht es, wenn
Ihr die Merkmale der Klassik wißt, ihr müßt nicht noch die der
Antike kennen!" Punkt. Thema beendet!
In
der Pause findet sich eine Gruppe des Kurses zusammen. Nach viel
Aufregung und Empörung über die Vorfälle der letzten zwei Jahre
kommt man zu dem Schluß, daß Aufklärung von der Schule nicht mehr
geleistet wird. Allem Anschein zum Trotz wird immer weniger Wert
auf Tiefe und Inhalt gelegt zugunsten der oberflächlichen Endbenotung:
dem Abi-Durchschnitt. Eine Schülerin möchte sich damit nicht zufrieden
geben. Irgend etwas muß dagegen getan werden. Als mittelmäßige
Schülerin kurz vor dem Abi beim Direktor Beschwerde einzulegen,
hätte keinen Sinn. Nein, man müßte außerhalb der Schule z.B. in
einem Verein, bei Jugendveranstaltungen wirken oder eine AG anbieten.
Plötzlich kommt ihr der Gedanke: ein Jugendlager über das Thema „Der
Grieche und seine antike klassische Kultur". Das Lager könnte im
Rahmen eines Jugendbundes, dessen Mitglied sie ist, stattfinden. mehr...